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08.04.14 11:28
"Wladimir Putin ist ein Monster"
 
kunak Инна
kunak
Aus sicherer Entfernung: Warum die Putin-Biografin Masha Gessen wieder von Moskau nach New York gezogen ist. Und was sie über die Winterspiele zu sagen hat. Und über die Feministinnen von Pussy Riot.
Die Olympischen Winterspiele in Sotschi stehen vor der Tür – die richtige Zeit, um über Masha Gessen zu reden. Denn diese Frau ist die wortgewaltigste Gegnerin, die der russische Präsident Wladimir Putin hat; mit kaltem Zorn und guten Argumenten nennt sie ihn ein "Monster". Masha Gessen ist etwas, was es eigentlich gar nicht geben dürfte: eine amerikanische Russin. 1967 wurde sie als Tochter einer jüdischen Familie in Moskau geboren, 1981 wanderten die Gessens nach Amerika aus, um dem Antisemitismus in der Sowjetunion zu entfliehen.
Aber nur zehn Jahre später kehrte Masha Gessen nach Moskau zurück – und hatte dort zwei Pässe in der Schublade, einen amerikanischen und einen russischen. Sie spricht und schreibt beide Sprachen fließend, sie arbeitet als Journalistin für Zeitungen hier wie dort. Vor kurzem ist Masha Gessen aber von Moskau wieder nach New York übergesiedelt. Im Stadtteil Harlem hat sie sich ein Haus gekauft, in dem sie nun mit ihrer Familie lebt.
Der Grund für diese Übersiedlung ist mitteilenswert. Das Problem war nämlich nicht ihre vielbeachtete Putin-Biografie, in der Masha Gessen aufschlüsselte, wie dieser ehemalige KGB-Spion – ein brutaler und mittelmäßiger Mann – zum Machthaber über die Russische Föderation aufstieg. (Auflösung: Der innere Kreis um Boris Jelzin war schuld. Als der versoffene Jelzin das Zeitliche segnete, suchte seine Familie einen Nachfolger, und Wladimir Putin war leider der einzige, der gerade bereitstand.) Der Grund, warum Masha Gessen das Weite suchte, war vielmehr ein Bündel von Gesetzen, die Putin verabschieden ließ, nachdem im Dezember 2011 mehr als 100.000 Menschen auf Moskaus Straßen gegen ihn protestiert hatten.



Die Autorin ist bekennende Lesbierin
All diese Gesetze schienen eigens auf Masha Gessen zugeschnitten zu sein. Erstens war in Putins Russland künftig "homosexuelle Propaganda" untersagt; vor allem Minderjährige sollten vor ihr geschützt werden. Zweitens wurde Amerikanern rundheraus verboten, russische Kinder zu adoptieren. Drittens konnte man (wie einst unter Stalin) als feindlicher Spion behandelt werden, wenn man, sagen wir, unfreundliche Zeitungsartikel über das zeitgenössische Russland veröffentlichte.
Nun ist Masha Gessen eine bekennende Lesbierin. Und sie hat vor ca. einem Dutzend Jahren einen Jungen aus einem Waisenhaus adoptiert, dessen Eltern an Aids gestorben waren. Sie hat ihn zusammen mit ihrer Freundin erzogen, er war also jeder Menge "homosexueller Propaganda" ausgesetzt. Außerdem ließ Masha Gessen ihn Klarinette lernen. Das hing damit zusammen, dass er noch als Dreijähriger kein Wort sprach; aber er tanzte gern und sang und hörte stundenlang Musik. Musik war offenbar sein bevorzugtes Mittel der Kommunikation. Jetzt, als Teenager, sollte er ein amerikanisches Internat besuchen, das auf Musikunterricht spezialisiert war – ohne den sadistischen Drill, den man an einer russischen Schule erwarten konnte.
Masha Gessen fürchtete nichts für sich selbst. Sie war ja durch ihren amerikanischen Pass geschützt. Sie fürchtete aber, Putins autoritärer Staat könnte ihre kleine Familie zerstören. "Die Amerikaner wollen russische Kinder adoptieren und sie in perversen Familien wie jener von Masha Gessen aufwachsen lassen." Das hatte ein Politiker in St. Petersburg öffentlich gesagt.
Sie ging nicht einfach, sie schrieb
Eine Drohung, was denn sonst? Gessen hatte begründete Angst, die Behörden würden ihr den Adoptivsohn wegnehmen, während er gerade in seinem amerikanischen Internat Klarinette übte und nichts ahnte. Also emigrierte sie – zum zweiten Mal in ihrem Leben.
Allerdings ging Masha Gessen nicht einfach so. Gleich nachdem sie emigriert war, veröffentlichte sie in Amerika ihr neues Buch. Es heißt "Words Will Break Cement: The Passion of Pussy Riot" ("Wörter werden den Zement zerbrechen: die Leidenschaft von Pussy Riot"), und man kann es als eine Art Gegenstück zu ihrer Putin-Biografie betrachten. Dort hatte die Autorin versucht zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass ein solches Monster geboren wurde.
In ihrem Buch über Pussy Riot dagegen versucht Masha Gessen zu begreifen, wie ein neues Kunstwerk in die Welt kam – nämlich der Auftritt dieser Gruppe in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Jener Auftritt führte bekanntlich dazu, dass zwei junge Frauen zu jeweils zwei Jahren in einem Straflager in Mordwinien verurteilt wurden.
"Mutter Gottes, treibe Putin aus!"
Betrachtet man das Video von dem (unerlaubten) Auftritt, wird schnell klar, dass es sich um ein klassisches Happening handelt. Außerdem begreift man sofort, dass nichts an diesem Happening blasphemisch war. Die christliche Religion wurde in dem fetzigen Punk-Rock-Lied, das die jungen Frauen in der Kirche vom Band spielten, keineswegs verhöhnt, statt dessen flehten sie die Jungfrau Maria an: "Mutter Gottes, treibe Putin aus!"
Masha Gessen zeigt uns in ihrem großartigen Buch, was die jungen Frauen antrieb. Sie beginnt mit einem Besuch bei Nadja Tolokonnikowa, der Gründerin von Pussy Riot, in ihrem Straflager und rollt dann die Vorgeschichte auf: Die junge Frau wurde 1989 in Norilsk geboren, einer von der Schwerindustrie verseuchten Stadt in Sibirien, in der es meistens dunkel und kalt ist. Ihre Eltern waren selbstverständlich Alkoholiker, Nadja Tolokonnikowa eignete sich ihre Bildung durch wildes Lesen an.
Sie war ein früh begabtes Kind, rebellierte in der Schule gegen stupides Auswendiglernen von höherem Blödsinn, und wäre sie nicht in Russland, sondern, sagen wir, in Kalifornien aufgewachsen, könnte man sich gut vorstellen, dass sie heute – mit 24 Jahren – vielleicht schon Professorin wäre: eine Philosophin in Berkeley, die sich für Lacan und Derrida und feministische Theorie interessiert. Auch die anderen in der Öffentlichkeit bekannten Mitglieder von Pussy Riot sind hochkarätige Intellektuelle – blutjunge Leute, die Heidegger und Kierkegaard und Dostojewski inhaliert haben.
Pussy Riot und die russische Tradition
Masha Gessen macht in ihrem Buch schön deutlich, dass die Frauen von Pussy Riot mit ihrem Auftritt in einer russischen Tradition stehen, die mindestens auf Tolstoi zurückgeht. Es ist die Tradition des Aufbegehrens gegen die Obrigkeit im Namen des wahren, des eigentlichen, des unentstellten Christentums. Die russisch-orthodoxe Kirche war leider sehr häufig mit den Herrschenden liiert – das war unter dem Zaren nicht anders als unter Stalin oder Breschnew. Kyrill I., der Patriarch von Moskau, arbeitete heimlich dem KGB zu, war also gewissermaßen ein Kollege von Wladimir Putin. Es nimmt nicht wunder, dass er sich jetzt mit der ganzen goldbetressten Würde seines Kirchenamtes hinter ihn stellt. Just das war der Skandal, auf den Pussy Riot mit dem Happening hinweisen wollte.
Gleichzeitig fügten Nadja Tolokonnikowa und ihre Freundinnen dieser alten und Tolstoischen Tradition aber etwas Neues hinzu: den Feminismus. Für ihn gibt es in Russland kaum historischen Vorbilder. Die Bolschewiken beschlossen bald nach ihrer Machtergreifung, dass die bürgerliche Ehe revolutionär, der Feminismus hingegen eine bourgeoise Abweichung von der Parteilinie sei. Ihren Feminismus mussten die Frauen von Pussy Riot darum im Stück aus dem Westen importieren. Ein beinahe schon ergreifender Abschnitt in Masha Gessens Buch erzählt von einem Seminar über die Geschichte der amerikanische Frauenbewegung, das Pussy Riot einst vor Freunden abhielt.
Die zweite Hälfte des Buches handelt dann von dem Prozess gegen Nadja Tolokonnikowa und ihre Mitstreiterinnen. Masha Gessen hält sich mit Kommentaren zurück, sie zitiert Dokumente. Diese Dokumente sprechen für sich: Der Prozess, der Pussy Riot in Moskau gemacht wurde, war ein schlechter, wenn auch etwas umständlicher Witz. Er unterschied sich um keinen Deut von Gerichtsprozessen, die einst gegen sowjetischen Dissidenten wie Andrej Sinjawski und Julij Daniel veranstaltet wurden.
660 Tage Haft für 40 Sekunden Protest
Die Zustände in russischen Straflagern haben sich seit den Zeiten des "Archipel Gulag" nur unwesentlich verbessert. Der Leiter des Lagers, in dem Nadja Tolokonnikowa einsaß, bekannte ohne Scham, er sei ein Stalinist. Am Ende hat Wladimir Putin den zwei Mitgliedern von Pussy Riot, die zu zwei Jahren verurteilt worden waren, gnädig zwei Monate ihrer Haft erlassen.
Ihr Auftritt in der Christ-Erlöser-Kirche in Moskau dauerte allerdings exakt 40 Sekunden. Masha Gessen rechnet aus, was das bedeutet: insgesamt 660 Tage Haft dafür, dass junge Frauen 40 Sekunden lang im Gleichtakt zur Musik ihre Lippen bewegt haben. Voilà, so sind heute in Russland die Preise.
Wenn die Olympischen Winterspiele in Sotschi beginnen, bedeutet das einen gewaltigen Prestigegewinn für das russische Regime. Und Masha Gessen, Putins zornigste und kälteste Gegnerin, lebt mittlerweile in Harlem. Es sieht also aus, als habe die Diktatur auf der ganzen Linie gesiegt. Und doch: "Wörter werden den Zement zerbrechen." Das klingt wie ein Vers aus einem verwegenen Punk-Rock-Lied. In Wahrheit handelt es sich um ein Zitat von Alexander Solschenizyn.
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